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Statistik der Unfallversicherung UVG

Juli 1998 - Mitteilungsblatt der EKAS


Rezessionsrisiko als Folge latenter oder subjektiver Invalidität?

Wirtschaftliche Krisen wirken sich bekanntlich kostensteigernd auf das Invaliditätsrisiko aus. Das war auch zu Beginn der 90er Jahre in der obligatorischen Unfallversicherung der Schweiz der Fall. Umstritten ist die Frage, inwieweit die Kostensteigerung die Folge einer «latenten» Invalidität oder eines Versicherungsmissbrauchs ist.

 

Dr. Remo Molinaro
Versicherungstechnik
Suva Luzern

     
 

Dr. Günter Baigger
Versicherungstechnik
Suva Luzern

     


Von 1985 bis 1988 beliefen sich die Kosten der Invalidenrenten der obligatorischen Unfallversicherung der Suva (inkl. Integritätsentschädigungen und Hilflosenentschädigungen) auf gut 3 Promille der prämienpflichtigen Lohnsumme1). Im Verlaufe der wirtschaftlichen Rezession sind sie aber bis 1993 um rund 40 Prozent gestiegen, bevor sie 1995 wieder auf das Niveau der Jahre vor der Rezession zurückgefallen sind (Grafik 1).

Gründe der Kostensteigerung

Die Kostensteigerung lässt sich in die beiden Komponenten Rentenhäufigkeit und Kosten pro Fall zerlegen. Erstere hat – gemessen an der Zahl der festgesetzten Renten je 1000 Versicherte – von 1988 bis 1993 um knapp 25 Prozent zugenommen, und zwar in der Berufsunfallversicherung wie in der Nichtberufsunfallversicherung2). Aber auch die realen Kosten pro Fall – das heisst die Kapitalwerte pro Rente zu konstanten Löhnen – sind im gleichen Zeitraum in der Berufsunfallversicherung um rund 10 und in der Nichtberufsunfallversicherung um 15 Prozent gestiegen.



Wir beschränken uns im folgenden auf die Nichtberufsunfallversicherung, da dort das Unfallrisiko der einzelnen Wirtschaftszweige weniger streut als in der Berufsunfallversicherung.

Im Bauhauptgewerbe, welches die Rezession und den Strukturwandel der 90er Jahre sehr stark zu spüren bekommen hat, sind die Kosten der Invalidenrenten in der Nichtberufsunfallversicherung von 1988 bis 1993 sogar um 65 Prozent gestiegen, bevor sie 1995 ebenfalls wieder auf das Niveau von 1988 zurückfielen. Hier haben die Rentenhäufigkeit um knapp 40 und die Kosten pro Fall um rund 20 Prozent zugenommen.

Ein anderes Bild zeigt sich bei den öffentlichen Verwaltungen, die vom konjunkturellen Einbruch weniger oder überhaupt nicht betroffen wurden. Hier sind die Kosten weitgehend unverändert geblieben (Grafik 2).



Zusätzliche Information liefert ein Vergleich der Kosten von Invaliden- und Hinterlassenenrenten. Die Invalidität ist nur im Rahmen eines Ermessensspielraums definierbar und hängt deshalb unter anderem von der konjunkturellen Entwicklung ab. Der Tod ist demgegenüber von wirtschaftlichen Gegebenheiten weitgehend unabhängig.

Im Gegensatz zu den Kosten der Invalidenrenten sind die Kosten der Hinterlassenenrenten in den Jahren 1988 bis 1993 gleich geblieben. In den Jahren 1995 und 1996 haben sie sogar deutlich abgenommen (Grafik 3).

Latente und subjektive Invalidität

Die kostentreibenden Auswirkungen einer wirtschaftlichen Rezession bzw. einer steigenden Arbeitslosigkeit auf das Invaliditätsrisiko in der Unfallversicherung sind evident. Oft wird daraus der Schluss gezogen, die während einer Rezession zusätzlich entstehenden Kosten seien nur wirtschaftlich und nicht auch medizinisch begründbar, oder es wird gar der Vorwurf erhoben, ganze Risikogemeinschaften (Kollektive) würden die Versicherung missbrauchen. Dienst3) hat in diesem Zusammenhang interessante Begriffe gebildet. Er unterscheidet zwischen «latenten» und «subjektiven» Invaliden. «Latente» Invalide sind bei ihm Beschäftigte, die medizinisch gesehen schon seit längerer Zeit invalid sind, aber erst durch eine wirtschaftliche Rezession «veranlasst oder gezwungen» werden, ihre Invaliditätsansprüche geltend zu machen. «Subjektive» Invalide sind hingegen medizinisch gesehen gesunde, wegen der wirtschaftlichen Rezession aber arbeitslos gewordene Versicherte, die behaupten, invalid zu sein, ohne dass man ihnen das Gegenteil beweisen könnte. Von Versicherungsmissbrauch kann man also nur im Falle einer «subjektiven» Invalidität sprechen.

Gemäss Dienst liegt in einer Rezession die Zahl der «latenten» Invaliden weit über derjenigen der «subjektiven» Invaliden, weil die üblichen Kontrollen den Möglichkeiten eines Missbrauchs doch relativ enge Schranken setzen würden.

Fakten und ihre Interpretation

Die Tatsache, dass 1996 die Kosten der Invalidenrenten trotz anhaltender bzw. verschärfter wirtschaftlicher Rezession nicht wieder angestiegen sind (Grafik 1), stützt die Vermutung, die «latente» Invalidität übertreffe die «subjektive» bei weitem. Folgende Interpretation ist nämlich möglich:

Während einer relativ langen Phase der Hochkonjunktur hat sich ein erhebliches Potential an «latenter» Invalidität aufgebaut. 1992 und 1993, zu Beginn der Rezession, wurden dann entsprechend viele Invaliditätsansprüche geltend gemacht, die jetzt nicht mehr angemeldet werden können. Somit waren die Versicherer 1996 «nur» noch mit der weniger stark ins Gewicht fallenden «subjektiven» Invalidität konfrontiert.

Diese Hypothese wird aber durch folgenden Sachverhalt relativiert: Die – vom konjunkturellen Verlauf weitgehend unabhängigen – Kosten der Hinterlassenenrenten haben 1995 und 1996 deutlich abgenommen, was auf eine entsprechende – wahrscheinlich auch demographisch bedingte – Abnahme des «objektiven» Unfallrisikos hindeutet (Grafik 3).



Hätten also die Kosten der Invalidenrenten, falls die «subjektive» Invalidität tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle spielt, nicht auch im gleichen Ausmass sinken müssen? Auch innerhalb des rezessionsanfälligen Bauhauptgewerbes fällt der Unterschied sehr deutlich aus, der in der Nichtberufsunfallversicherung zwischen den Kosten der Invaliden- und denjenigen der Hinterlassenenrenten besteht. Im gleichen Zeitraum, in dem erstere um 65 Prozent gestiegen sind, haben letztere nämlich um 5 Prozent abgenommen.

Abschliessend können wir festhalten: Rezessionen treiben die Kosten der Invalidenrenten in die Höhe. Offen bleibt die Frage, ob dies vor allem auf eine «latente» oder auf eine «subjektive», das heisst missbräuchliche Invalidität zurückzuführen ist.

1)

Die Kosten der Invalidenrenten eines Rechnungsjahres erhält man aus folgendem Rechenverfahren: Man summiert die Quotienten aus dem Kapitalwert der im Rechnungsjahr festgesetzten Renten und der Lohnsumme des Registrierungsjahres der entsprechenden Unfälle.

2)

Die Rentenhäufigkeit eines Rechnungsjahres ergibt sich folgendermassen: Man summiert die Quotienten aus der Anzahl Unfälle eines Rechnungsjahres und aus der Anzahl der Versicherten des zugehörigen Registrierungsjahres.

3)

Dienst Hans-Rudolf, Gedanken zum Konjunkturrisiko in der Berufsunfähigkeits-Versicherung; Blätter der Deutschen Gesellschaft für Versicherungsmathematik 1972, Band X, Heft 4, S. 522 f.


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Letzte Aktualisierung: 15.06.2005